James Robert Brown - Who Rules in Science


Dies ist ein Textbericht über das Buch "Who rules in science - an opinionated guide to the wars" von James Robert Brown. Es wurden nur die wichtigsten Beispiele aus dem Text berücksichtigt. Anmerkungen in eckigen Klammern sind von mir.
 

Drei Schlüsselbegriffe


Realismus  

Realismus als philosophische Position zeichnet sich durch drei Forderungen aus:

  1. Ziel der Naturwissenschaft ist es, eine wahre (oder nahe an der Wahrheit liegende) Beschreibung der Natur zu geben.
  2. Wissenschaftliche Theorien sind entweder wahr oder falsch. Ihre Wahrheit ist buchstäblich, nicht metaphorisch. Sie hängt nicht davon ab, wie wir diese Theorien testen, wie unser Geist beschaffen ist und hängt nicht von der Gesellschaft ab.
  3. Es ist möglich, Gründe für die Wahrheit einer Theorie zu haben (auch wenn man es möglich ist, dass die Theorie dennoch falsch ist).

Beispiele für realistische Positionen: Ein Atheist oder ein religiöser Fundamentalist

Beispiele für anti-realistische Positionen: Agnostiker oder Theologen, welche religiöse Aussagen nicht wörtlich nehmen wollen.

Realist kann man nur in Bezug auf Sachverhalte sein, die wir entdecken, nicht auf solche, die wir erfinden (Schach).

Schwierig ist die Unterscheidung, wenn sie ästhetische, ethische oder mathematische Sachverhalte betreffen: Ist Schönheit abhängig vom Beobachter und nicht Teil einer unabhängigen Realität? Sind ethische Normen oder mathematische Sätze unabhängige Entitäten oder von uns abhängig?

Jemand kann den Realismus in den Naturwissenschaften vertreten, ohne ihn etwa in der Mathematik zu vertreten. [Anm.: Dies scheint mir unplausibel: wie kann man an die Wahrheit von mathematischen Modellen von Naturgesetzen glauben, ohne auch zu glauben, dass die mathematischen Strukturen in diesem Sinne naturgemäß sind und eben nicht vom Beobachter abhängen? Ok., Atome, ausgedrückt in Teilchenzahlen repräsentieren noch nicht die Struktur der natürlichen Zahlen. Aber wie ist das mit Feldgleichungen?]

Antirealistische Positionen:

Objektivität

Ein Wissenschaftler ist Objektivist, wenn er Theorien auf der Basis von vorliegenden Fakten annimmt oder ablehnt, und nicht auf der Basis von sozialen Faktoren. Instrumentalisten und Verifikationisten sind auch Objektivisten, soziale Konstruktivisten dagegen nicht.

Es gibt eine ontologische und eine epistemische Dichotomie zwischen "objektiv" und "subjektiv":

Auch Eigenschaften lassen sich in objektiv und subjektiv einordnen: "giftig" ist objektiv, "süß" ist subjektiv (zwar sind beide Beispiele relational, doch nur subjektive Eigenschaften bedürfen der Wahrnehmung,. Aussagen können ontologisch subjektiv und epistemisch objektiv sein ("Essig schmeckt sauer").

Für den sozialen Konstruktivisten sind diese Unterscheidungen hinfällig.

Traditionelle Position: Jemand ist objektiv, sofern er frei von Werten ist. Dies muss näher untersucht werden.

 
Werte

Zwei widerstreitende Forderungen:

Die philosophische Tradition unterscheidet zwischen "sein" und "sollen". Demnach gibt es Aussagen, die Fakten ausdrücken ("fact-statements"), und solche, die Wertvorstellungen bzw. Normen ausdrücken ("value-statements"). Gemäß der Tradition gibt es zwischen diesen Sätzen keine logische Beziehungen (aus dem Sein folgt kein Sollen, und umgekehrt).

Es gibt verschiedene Arten von Werten:

Beispiel für Epistemische Normen (Robert Merton (1973), "scientific ethos":)

  1. Universalismus: Es gibt keine privilegierten Beobachter.
  2. Kommunismus: Wissen wird gemeinschaftlich erarbeitet und gehört allen.
  3. Uneigennützigkeit/Unvoreingenommenheit: Die Forschung soll von unseren Wünschen unbeeinflusst bleiben.
  4. Organisierter Skeptizismus: Kein Wissen ist unbezweifelbar.

fact-statements können überprüft werden, value-statements dagegen nicht. Manche value-statements geben vor, Fakten auszudrücken, etwa: "Gott erschuf die Erde in sechs Tagen." Diese sind aber nicht überprüfbar. [Anm.: Das klingt nach Poppers Falsifizierbarkeit als Abgrenzungskriterium zwischen empirischen und metaphysischen Sätzen. Doch sind metaphysische Sätze generell value-statements? Das scheint mir nicht plausibel.]

Mit der Zeit können aufgrund neuer Auffassungen ehemals rationale Gründe zu irrationalen Gründen werden (etwa die Bezugnahme von Newton, Leibniz, Kepler auf Gott in ihren Hypothesen).
Somit sind religiöse Überzeugungen Werte in dem abgeleiteten Sinn, dass sie gegenwärtig nicht rational begründet sind. [Anm.: Sofern, wie es Brown selber darstellt, Rationalität etwas ist, das von Zeit und Gesellschaft abhängt, ist es nur ein kleiner Schritt, zu behaupten, Rationalität ist ganz und gar subjektiv. Muss sich Brown aber nicht gerade dagegen verwehren?]
 

Lokaler vs. globaler Konstruktivismus

Standardauffassung von Wissenschaft: Das Ziel der Wissenschaft ist es zu erklären, wie die Dinge objektiv sind.

Es gibt zwei Spielarten des sozialen Konstruktivismus:


Was ist Naturalismus?

Naturalismus entspringt der Vorstellung, dass die Welt der natürlichen Phänomene die ganze Welt ausmacht und dass die wissenschaftliche Herangehensweise der einzige Weg ist, um zu einem Verständnis von ihr zu gelangen. Jedes religiöse Verständnis der Welt (die Gottesvorstellung inbegriffen) ist nicht dazu geeignet, die Welt begreifbar zu machen. Jedes Wissen ist wissenschaftlicher Art.

Naturalismus ist ein Programm: Jede wissenschaftliche Erklärung muss naturalistisch sein.

Der naturalistische Konstruktivist vertritt die Position des Naturalismus. Er hat den Anspruch, dass der Konstruktivismus die einzig konsequente wissenschaftliche Herangehensweise ist. Wir haben es überall in den Wissenschaften mit Konstruktionen zu tun. (Alles was wir entdecken, hängt von den getroffen Messvereinbarungen ab.) [Anm.: Mir ist nicht klar, inwiefern der Konstruktivist überhaupt der Auffassung ist, durch Konstruktionen etwas wesentliches über die Welt zu erfahren; sofern dieses Wissen nur subjektiv ist: kann die Welt überhaupt die Summe von (subjektiven) Konstruktionen sein, ohne in ihrem Kern darüber hinauszugehen (woraus dann folgen würde, dass Wissenschaft doch nicht die ganze Welt beschreibt...)?]

Der Streit, um den es im Folgenden geht, ist eigentlich kein Streit zwischen Realisten und Sozialen Konstruktivisten (auch wenn dies die gebräuchlichen Etikettierungen der beiden Lager sind). Vielmehr ist es ein Streit zwischen der Auffassung, Wissenschaft sei etwas objektives, und der Auffassung, sie sei subjektiver Natur. Es geht hierbei nicht darum, ob Wissenschaft wertfrei ist (wie bereits gezeigt).
 

Der naturalistische Flügel des Sozialen Konstruktivismus


Ein Paradebeispiel

In seinem einflussreichen Artikel 1971 über die Akzeptanz der Quantenmechanik unter den Physikern der Weimarer Republik gibt Paul Forman eine soziale Erklärung für diese Akzeptanz:

"Suddenly deprived by a change in public values of the approbation and prestige which they had enjoyed before and during World War I, the German physicists were impelled to alter their ideology and even the content of their science in order to recover a favourable public image. In particular, many resolved that one way or another, they must rid themselves of the albatross of causality."

Soziale Konstruktivisten, im engeren Sinne die Wissenssoziologen wie Barnes und Bloor (SSK, Sociology of Scientific Knowledge), betrachten soziale Kräfte um die wissenschaftlichen Handlugen zu erklären.
 

Bloors starkes Programm

Bloor sieht sich selbst als Naturalist, und zwar so durchgängig, dass er auch bereit ist, alle Konsequenzen zu ziehen, die sich hieraus ergeben. Eine der Konsequenzen ist seiner Meinung nach der Soziale Konstruktivismus.

Die traditionelle Wissenssoziologie vor Bloor hatte sich mit soziologischen Aspekten in den Wissenschaften auseinandergesetzt, aber sich nicht den Inhalten von wissenschaftlichen Theorien gewidmet. Diese Herangehensweise charakterisiert Bloor als schwaches Programm. Fragen danach, warum ein Wissenschaftler zu einem bestimmten Schluss kommt, würde die traditionelle Wissenssoziologie unter Verweis auf die Gründe des Wissenschaftlers abweisen und sich hierfür als nicht zuständig erklären (da für eine Erklärung wohl auf den Inhalt des Schlusses Bezug genommen werden müsste, also nicht auf Fakten, sondern auf Normen, die das rationale Denken betreffen.) Bloor versucht in seinem starken Programm nun, auch diese Fragen zu klären.

Mertons A-Rationalitätsprinzip: Wenn eine rationale Erklärung für eine wissenschaftliche Überzeugung vorhanden ist, sollte diese Erklärung akzeptiert werden. Nur wenn diese nicht verfügbar ist, darf man nichtrationale, psychologische oder soziologische Erklärungen verwenden.

Bloor geht insbesondere gegen ein solches Rationalitätsprinzip an: Normen müssen wegerklärt oder auf Begriffe der gewöhnlichen Wissenschaft reduziert werden.

Bloors Prinzipien:

Das zweite und letzte Prinzip scheinen völlig korrekt zu sein, die anderen beiden müssen näher untersucht werden. Die entscheidende Frage ist: Ist ein Grund die Ursache einer Überzeugung?

Das Symmetrieprinzip (aber nicht das Unvoreingenommenheitsprinzip) steht im Widerspruch zum Rationalitätsprinzip. Bloor ist der Auffassung, dass wir eine Überzeugung haben können und zugleich glauben können, dass diese Überzeugung durch soziale Faktoren verursacht wurde. 


Pasteur, Pouchet und die spontane Erzeugung


Spontane Erzeugung bezeichnet die Lehre, dass sich Organismen unabhängig aus unorganischer Materie oder organischen Resten bilden können, ohne von Eltern abzustammen. Pasteur hat die Glaubwürdigkeit diese Lehre durch eine Reihe von Experimenten stark beeinträchtigt.

Farley und Geison (1974) geben als soziale Erklärung für Pasteurs Position an, dass er seine reaktionäre Politik besser befördern konnte, indem er die spontane Erzeugung bekämpfte. Sie unterstellen, dass Pasteur kein wissenschaftliches Interesse an der Wahrheit der Theorie der spontanen Erzeugung hatte. Denn: Pasteur hätte die Möglichkeit spontaner Erzeugung nicht leugnen können ohne hierbei eine Reihe anderer wissenschaftlicher Überzeugungen unterdrücken zu müssen.

Soziale Faktoren, nicht Gründe sollen also die Ursache für die Überzeugungen Pasteurs sein.


Das Symmetrieprinzip

Das Symmetrieprinzip erfordert die selbe Art der Erklärung einer Überzeugung ohne zu berücksichtigen, ob diese Überzeugung wahr oder falsch, rational oder irrational ist.

Das A-Rationalitätsprinzip kann auch Antisymmetrieprinzip genannt werden. Es entspricht sehr genau dem, was im Alltag eine Erklärung darstellt. Ist eine Überzeugung wahr, so werden die Gründe hierfür erläutert, ist sie falsch, so werden andere Ursachen wie Sinnestäuschung angegeben.

Zugegeben ist: Wahrheit ist nicht zugänglich und darf daher in der Erklärung keine Rolle spielen. Doch bei Rationalität verhält es sich anders. Sie mag zwar nicht vollständig zugänglich/transparent sein, ist es aber im großen und ganzen.

Eine Überzeugung wird erklärt durch Bezugnahme auf die Gründe, die die untersuchte Person hat, nicht auf die Gründe, die wir selbst haben. Bloor hat recht wenn er sagt, dass unsere Auswertung der Überzeugung keine Rolle in der Erklärung spielen darf, sofern er mit Auswertung die Auswertung ihrer Wahrheit meint. Aber er hat unrecht, wenn er darunter die Auswertung der Rationalität der Überzeugung meint.

Es stellt sich die Frage, was genau Bloor meint, wenn er gleiche Ursachen für Überzeugungen einfordert. Es kann nicht „identische Ursachen“ bedeuten (da etwa Erdbeben nicht erklären, warum Brücken stehen).

Handelt es sich stattdessen vielleicht um die Forderung, dass kausale Erklärungen herangezogen werden müssen? Dann würden auch Rationalisten dem Symmetrieprinzip zustimmen, sofern Gründe als Ursachen aufgefasst werden würden. Es würde dann nicht mehr gegen das Symmetrieprinzip verstoßen, rationale Überzeugungen durch Gründe und irrationale Überzeugungen durch kausale Faktoren zu erklären.

Wahrscheinlich ist es aber so gemeint: Wir benutzen physikalische Gesetze, um physikalische Phänomene zu erklären, Physiologie, um Vorgänge im Körper zu erklären, etc. Ist P ein physikalisches Phänomen, und P’ mit P hinreichend ähnlich, so wird es auch für P’ eine physikalische Erklärung geben. Oder: Krankheit und Gesundheit werden gleichermaßen mittels den Gesetzen der Physiologie erklärt. Ebenso sollte es sich in der Soziologie verhalten. Wir können irrationale Überzeugungen mit Hilfe der Soziologie erklären. Also müssen wir gemäß des Symmetrieprinzips auch rationale Überzeugungen mittels Soziologie erklären.

Das mag plausibel klingen, doch die Grenzen der wissenschaftlichen Disziplinen sind nicht sehr klar gezogen. Oft kann man sich nicht auf nur eine isolierte Theorie beschränken, um ein Phänomen zu erklären.

Formans Beispiel:

1.        Die Weimarer Physiker haben ihren hohen sozialen Status verloren und wollen ihn wiedererlangen. [Anm.: Dies ist übrigens eine Proeinstellung im Sinne Davidsons.]

2.        Sie wissen, dass sie an öffentlichem Ansehen hinzugewinnen, wenn sie die nichtdeterministische Quantenmechanik annehmen. [Anm.: Und dies eine Überzeugung hinsichtlich der Proeinstellung.]

3.        Also haben sie die Quantenmechanik angenommen.

Bloor würde dies Erklärung einer Überzeugung sicherlich als eine Erklärung mittels sozialer Ursachen akzeptieren. Dennoch spielen hier Gründe eine große Rolle: die zweite Prämisse ist selbst eine Überzeugung, die nur durch Gründe zustande gekommen sein kann. Somit sind Gründe ebenso sehr wie soziale Faktoren Ursachen für Überzeugungen. Manchmal spielen soziale Faktoren eine Rolle, Gründe dagegen nicht, manchmal ist es umgekehrt. Also ist das Symmetrieprinzip falsch.


Latour über Symmetrie

In Bloors Herangehensweise gibt es eine Asymmetrie: Soziale Faktoren verursachen wissenschaftliche Überzeugungen, aber umgekehrtes gilt nicht. Überzeugungen scheinen Randphänomene zu sein, die keinerlei kausalen Auswirkungen haben

Latour hat eine sehr viel radialerer Version des Symmetrieprinzips vorgebracht. Dieses soll die Asymmetrie zwischen natürlicher Welt und sozialer Welt überwinden. (In einem Aufsatz stellt er hierzu etwa Menschen und Mikroben auf eine Stufe. Mikroben haben danach ebenfalls Interessen und kooperieren.) Der Beobachter darf keinen Unterschied mehr machen zwischen natürlichen und sozialen Prozessen. Latour erreicht das aber nur dadurch, indem er natürliche Prozesse mit sozialem Gehalt anreichert.
 

Schizophrene Methode

Collins und Yearely schreiben:

„Natural scientists, working at the bench, should be naive realists – that is what will get the work done. Sociologists, historians, scientists away from bench, and the rest of the general public should be social realists. Social realists must experience the social word in a naïve way, as the day to day foundation of reality (as natural scientists naively experience the natural world). That is the way to understand the relationship between science and the rest of our cultural activities.”

Diese Position bestreitet Bloors Selbstbezüglichkeitsprinzip: Was für die Wissenschaft gilt, muss nicht für die Wissenschaft der Wissenschaft (SSK) gelten.

Jeder Analyse eines wissenschaftshistorischen Ereignisses kann eine Metaanalyse folgen, wobei eine realistische Beschreibung von einer sozialen Konstruktion abgelöst wird.
 

Anthropologie im Labor

Latour und Woolgar schreiben in ihrem Aufsatz „Laboratory Life“: Die Existenz von Substanzen ruht auf dem Erfolg von bestimmten Tests. Gelingt der Nachweis mittels solchen Tests nicht, so existiert die Substanz nicht.

Dies ist nicht plausibel: Es mag verschiedene Gründe für die Verwendung eines Tests geben. Manche Gründe mögen auch soziale Faktoren beinhalten. Aber entscheidend ist, dass diese Gründe unabhängig voneinander sind in der Hinsicht, welcher Test der geeignete ist. (Nicht unabhängig von sozialen Faktoren, aber unabhängig von de Wissenschaftlern, die die Entscheidung treffen). Die Existenz kann also nur unabhängig von einem Nachweis sein. Somit sind diese Art von Fakten keine sozialen Konstruktionen. Und es ist von hieraus ein kleiner Schritt, zuzugeben, dass Menschen manchmal mit Fakten arbeiten, die in jeder Hinsicht keine sozialen Konstruktionen sind.
 

Über methodologischen Holismus vs. Individualismus

Methodologischer Holismus in der Soziologie ist die Position, dass gewisse Tatsachen über eine soziale Gruppe nicht ableitbar sind aus den Tatsachen über deren Individuen (etwa in Durkheims Begriff der sozialen Kohäsion).

Der methodologisch Individualismus behauptet dagegen, dass eine solche Reduktion immer möglich ist.

Der Streit zwischen Holisten und Individualisten ist aber für unsere Debatte nicht relevant.
 

Untergräbt der soziale Konstruktivismus die Wissenschaft?

Bertand Russell: 

„Naive realism leads to physics, and physics, if true, shows that naive realism is false. Therefore naive realism, if true, is false; therefore it is false.”

Der Naturalismus Bloors kann ähnlich gefasst werden:

  1. Wir begrüßen die hervorragenden Methoden und Resultate der Wissenschaft und messen ihnen höchste Autorität bei.
  2. Sobald wir diese Methoden auf die Wissenschaft selbst anwenden, entdecken wir, dass diese Methoden nicht objektiv sind sondern soziale Konstruktionen. An Wissenschaft ist also nichts besonderes.
  3. Also: Wissenschaft ist eine soziale Konstruktion.

Doch anstelle die Konklusion zu akzeptieren, verwirft Bloor die Autorität der Wissenschaft.
 

Die Rolle der Vernunft

Kuhn

Laut Kuhn scheint der Wechsel von einem Paradigma zu einem anderen nicht auf Gründen zu beruhen, sondern auf sozialen Faktoren.

Kuhns Thesen werden von sozialen Konstruktivisten oft herangezogen. Barnes liest Kuhn im Ergebnis folgendermaßen: Gründe spielen weder innerhalb eines Paradigmas noch während eines Wechsels eine Rolle. Ob Kuhn damit selbst zufrieden wäre, bleibt fraglich. Kuhn hat selbst Kriterien für eine Theorie der Rationalität aufgestellt. Man darf annehmen, dass für Kuhn Gründe sehr wohl Ursachen darstellen. Rationalität innerhalb eines Paradigmas ist nach Kuhn möglich. Diese leitet sich daraus ab, dass das beste Paradigma gewählt wird und es sich hierbei um eine rationale Handlung handelt. Somit ist Wissenschaft selbst eine rationale Tätigkeit.

[Anm.: Wieso können verschiedene Paradigmen nach pragmatischen Gesichtspunkten verglichen werden, wenn sie doch inkommensurabel sind? Was soll das für eine Wahl sein?] 

[...]

Der Rationalist ist der Auffassung, das Gründe Überzeugungen verursachen können. Er muss aber nicht glauben, dass jede Überzeugung durch Gründe verursacht ist. Im Prinzip sind rationale Erklärungen jedenfalls legitim.

Bloor ist Antirationalist, insofern er rationale Erklärungen als nichtkausal charakterisiert. Er darf es nicht zulassen, dass auch nur eine Überzeugung durch Gründe verursacht wird. Gründe müssen für Bloor etwas sein, dass keinerlei Wirkung auf anderes hat, sie erklären nichts.

In den Fallstudien, die in Zusammenhang mit Bloors Symmetrieprinzip vorgestellt wurden, wurde bestritten, dass Gründe irgend eine Rolle spielen. Doch tatsächlich wurde in ihnen vorausgesetzt, dass die Personen Ziele haben und auch wissen, wie sie diese Ziele erreichen können.

Es soll nun unterschieden werden zwischen wissenschaftlichen Gründen (evidential reasons), das sind Gründe, die einen glauben machen, dass eine Überzeugung wissenschaftlich vertretbar ist (den Zielen Wahrheit, Adäquatheit, etc. entspricht), und pragmatischen Gründen (pragmatic reasons), welche Anlass geben zu glauben, dass eine Überzeugung nichtwissenschaftlichen Zielen förderlich ist.

Das typische Argument der Fallstudien war, dass die Überzeugungen von Wissenschaftlern durch pragmatische Gründe erklärt wurde, dagegen die Existenz wissenschaftlicher Gründe  bestritten wurde.

Aber woher wissen wir, dass ein pragmatischer Grund einem nichtwissenschaftlichen Ziel dient? Doch nur mittels eines wissenschaftlichen Grundes! Wissenschaftliche Gründe spielen sogar dann eine Rolle, wenn es nur darum geht, zu erkennen, dass ein pragmatischer Grund eine Rolle spielen könnte.
 

Gründe sind Ursachen

Der Knackpunkt an Gründen ist der normative Aspekt an ihnen. Sagt man, dass R ein Grund dafür ist, P zu glauben, so meint man, dass P glauben sollte.

Genauer muss man formulieren, dass es nicht der Grund (evidence) selbst ist, der eine Überzeugung verursacht, sondern sie wird durch die Überzeugung, dass der Grund vorliegt verursacht.

 
Soziologisierte Gründe

Ein Einwand von den Wissenssoziologen lautet: Natürlich sind Gründe involviert, doch müssen wir auch den Kontext von diesen in Betracht ziehen, und dieser Kontext ist ein sozialer. Es gibt keine kontextfreien Gründe. 

Barnes und Bloor schreiben:

„What counts as an ‘evidencing reason’ for al belief in one context will be seen as evidence for quite a different conclusion in another context. […] As historians of science have shown, different scientists drew different conclusions and took the evidence to point in different directions. This was possible because something is only evidence for something else when set in the context of assumptions which give it meaning. […] ‘Evidencing reasons’, then are a prime target for sociological inquiry and explanation. […] Its concern is precisely with causes as ‘evidencing reasons’“

Es scheint, als werden hier Gründe eine wichtige Rolle zugebilligt. Doch genauer betrachtet, werden Gründen selbst keine kausale Funktion zugestanden, sondern nur deren rhetorische Verwendung (reason-talk).

Dass es kontextabhängig ist, für welche Überzeugung ein Grund eine Ursache ist, ist leicht einzusehen: Person A hat die Überzeugung P und P->Q, Person B hat die Überzeugung –P und P->-Q. Einmal ist P der Grund für Q, einmal ist P der Grund für –Q.

Wenn Barnes und Bloor von Kontext reden, so müssen sie vom wissenschaftlichen Kontext („context of assumptions“) sprechen und nicht vom sozialen Kontext. Das ist ihr Fehler. So beachten sie stattdessen (innerhalb des sozialen Kontexts) nur den rhetorischen Gebrauch der Gründe statt der wahren Gründe. Für sie sind nicht die Gründe selbst Ursachen, sondern der rhetorische Gebrauch ist (soziale) Ursache.

Man kann fragen, woher unsere Überzeugungen kommen und ob sie überhaupt gerechtfertigt sind. Dem allgemeinen Skeptizismus entgeht man, indem man statt den Überzeugungen selbst den Wechsel von Überzeugungen betrachtet. Einen Wechsel von Überzeugung -P zu Überzeugung P kann ohne Schwierigkeiten als rational gelten.
 

Gibt es einen Mittelweg?

Es gibt nur die zwei Alternativen: entweder gibt es in der Welt echte Normen, die eine kausale Rolle spielen, oder sie gibt es nicht.

Friedman versucht, einen Mittelweg anzubieten: 

„Whether or not philosophers succeed in fashioning a normative or prescriptive lens through which to view these very same beliefs, arguments, deliberations, and so on, is entirely irrelevant. In this sense, there is simply no possibility of conflict or competition between “non-natural” philosophical investigations of reason, on the one hand, and descriptive, empirical sociology of scientific knowledge, on the other.”

Friedman weicht von Bloor nur insoweit ab, als er glaubt, dass wir bestimmt Überzeugungen auch zutreffend als rational kennzeichnen können. Nach Friedman ist es nicht wichtig, ob ein Wissenschaftler selbst rational war, sondern wir durch rational Rekonstruieren im Rückblick erkennen können, ob seine Entscheidung gerechtfertigt war.

Wie sind unsere eigenen Überzeugungen darüber gerechtfertigt? Wenn nicht, dann haben wir die Normen nicht in den Griff bekommen, wenn ja, dann ist es doch möglich, dass unsere Überzeugungen durch Gründe verursacht werden, und ebenso wird es bei dem Wissenschaftler sein.


Unterbestimmtheit

Gegen Gründe kann das Argument der Unterbestimmtheit vorgebracht werden: Selbst wenn es so etwas wie Gründe gibt, reichen sie nicht aus, um eine Überzeugung zu verursachen. 

Seien zwei konkurrierende Theorien gleichermaßen empirisch überprüft und können gleichermaßen befürwortet werden. Gibt es (noch) keine Möglichkeit, zu entscheiden, welche die bessere ist, so sind die Theorien in Bezug auf Gründe unterbestimmt. Es muss also etwas weiteres geben, dass verursacht, dass eine bestimmte Überzeugung angenommen wurde, und dies müssen soziale oder psychologische Faktoren sein. Man unterstellt den Wissenschaftlern Interessen, die eine Überzeugung determiniert machen sollen. Doch prinzipiell ist das Argument der Unbestimmtheit auch hierauf fortsetzbar.

Unterbestimmtheit kann nicht dazu herhalten, eine soziologische Herangehensweise zu rechtfertigen. Zudem gibt es in der Praxis kein Problem mit der Unterbestimmtheit, denn in der Regel haben wir es nur mit einer geringen Anzahl von Alternativen zu tun, die sich immer auf irgend eine Weise unterscheiden.